München - Munich


 

Jüdisches Leben in München

 

Eine Dokumentation von Chaim Frank  (© 1992, 1998, 2001, Dokumentations-Archiv, München)

 

 

 

 

Keiner der Überlebenden hatte damals, als im April 1945 sich hinter ihm die Tore der KZ‘s für immer schlossen, gedacht, daß sich je wieder Juden im‚ Land der Mörder“ niederlassen würden. Der Schock, den das tausendjährige Reich hinterließ, saß einfach zu tief. Zu viele Menschen hatten sich am nationalsozialistischen Rassenwahn, an der Deportation, am Raub, am Mord und direkt oder durch Stillschweigen an der Vernichtungspolitik beteiligt. Sie alle zeigten nach 1945 keine wesentliche Reue für ihre Verbrechen, wiesen alle Schuld weit von sich und wollten sich einfach nicht mehr an ihre unrühmliche Vergangenheit erinnern lassen. Mit Argwohn betrachteten die ehemaligen Nazis die Rückkehr einzelner überlebender Juden in ihre Städte.

Die Zahlen sprechen für sich: In Bayern waren vor 1933 rund 55.000 Juden ansässig, etwa 0,8% der Gesamtbevölkerung. Nach dem Krieg waren davon nur noch 1000 Juden übrig, also 0,012 % der Nachkriegsbevölkerung Bayerns. Von den ehemals rund 12.000 Münchner Juden konnte man im Oktober1945 lediglich noch 200 ausfindig machen. Es waren Juden, die entweder überlebt haften oder aus diversen KZ-Lagern wieder in ihren Heimatort (wohin sollten sie auch sonst gehen?) zurückgekehrt waren. Dieses Häufchen stellte lediglich den kläglichen Rest der ehemals alteingesessenen jüdischen Bevölkerung Bayerns dar, die alles verloren hatte, was sie einst besaßen, ihr Hab und Gut und vor allem aber ihre Angehörigen.

Die jüdische Schriftstellerin Gerty Spies, die hochbetagt 1997 verstorben ist, formulierte 1946 die ersten Eindrücke in ihrem Gedicht Nachher folgendermaßen:

 

Ich bin zurückgekehrt - ich weiß nicht wie. 

Ein sanftes Wunder ist an mir geschehen. 

Ich hör‘ der Heimatglocken Melodie, 

Die Berg‘ und Wälder darf ich wiedersehen.

Ich bin zurückgekehrt - mir ist so weh!

Ist alles anders, als es einst gewesen,

Weil ich‘s mit jenen neuen Augen seh‘,

Mit denen ich das Leid der Welt gelesen.

Ich bin zurückgekehrt! – Oh frag mich nicht

Nach jenen Schatten, die die Sinne meistern

Und bei des Mondes weißem Totenlicht

Des Nachts durch die zersprungne Seele geistern.

Den wenigen Überlebenden, die im Sommer 1945 wieder nach München zurückgekehrt waren, folgten in den nächsten Wochen und Monate auch nichtdeutsche jüdische Überlebende der Konzentrationslager. Dieser »Rest der Geretteten« (hebräisch: Scherit ha-Pleita), der vorwiegend aus den osteuropäischen Ländern stammte, begann sich in verschiedenen Orten der Westzone, vor allem aber in München und Umgebung zu sammeln. Dazu stießen, nach den polnischen Pogromen in Krakau und Kielce (4./5. Juli), zwischen Sommer und Herbst 1946 weitere Tausende nichtdeutscher Juden, die den Holocaust in Osteuropa überlebt haften. Etwa 100.000 Juden waren bis dahin in die amerikanische Zone, vor allem nach Bayern, geflüchtet, zumal hier auch zahlreiche jüdische und amerikanische Hilfsorganisationen ihre Dienste versahen, wie z.B. The American Joint Distribution Committee, The Hebrew Immigrant Aid Society, The Organization for Rehabilitation through Training, The Jewish Agency for Palestina, und andere mehr.

Fast alle dieser ‘Ostjuden‘ wurden in den sogenannten »Displaced Persons Lagern« untergebracht, die in Deggendorf, Feldafing, Föhrenwald (bei Wolfratshausen), Landsberg, Lechfeld bei Augsburg und in Zeilsheim bei Frankfurt errichtet worden waren. Diese DP-Lager wurden für über 140.000 Juden, die nach Palästina, in die USA und andere Länder auswandern wollten, zwischen 1945 und 1951 zur Durchgangsstation. Von einer raschen Auswanderung konnte keine Rede sein, zu viele Hindernisse, so z.B. die restriktiven Bedingungen zur Einwanderung nach Palästina und in die USA, verlängerten den Aufenthalt im »Land der Mörder«.

Neben diesen in verschiedenen DP-Lager aufgeteilten jüdischen Überlebenden befanden sich im März 1946 etwa 2.800 Juden wieder in München, darunter 796 einstige Mitglieder der Münchner Israelitischen Gemeinde. Sie bildeten den Grundstock des jüdischen Nachkriegslebens in München, das am 19. Juli 1945 mit der Wiedergründung der jüdischen Kultusgemeinde begann. Inzwischen ging die Wiederherstellung der Synagoge an der Reichenbachstraße zielstrebig voran, und am 21. Mai1946 verfügte München, als erste Stadt in der US-Zone, über ein eigenes hebräisches Gymnasium. Das war verständlich, denn bezüglich der Ausbildung hatten die KZ-Überlebenden einen überaus großen Nachholbedarf. Im jüdischen Gymnasium, das unter der Leitung von Prof. Baruch Graubard stand, wurde 120 Schüler im Alter von 15 bis 55 Jahren in 6 Klassen neben einer allgemeinen Ausbildung, die in keinem Punkt den Maßstäben anderer Schulen nachstand, auch jüdisches Wissen vermittelt.

Im August 1946 bildete sich (ebenfalls in München) der jüdische Schriftsteller- und Künstlerverband, dem rund 25 jiddisch- und hebräisch-schreibende Autoren, 40 Journalisten und 11 bildende Künstler angehörten. Sie veranstalteten in den verschiedenen DP-Lager Literaturabende und Lesungen und gaben literarische Zeitschriften und Zeitungen in jiddischer, deutscher und hebräischer Sprache heraus, von denen alleine in München 13 (z.B. Unser Weg, Jüdische Bilder, Das Wort, Übergang, ha-Medina, Nitzutz, ha-Schomer ha-Zair, Pachach, u.a.) erschienen.

Davon abgesehen versuchte man intensiv Kulturprogramme zu erstellen, mit denen man die Menschen tröstete und ihnen half, die schweren Stunden, vor allem den psychischen Druck des Wartens und der Depressionen zu überwinden. Große Arbeit leisteten darin die jüdischen Theatergruppen, die in den einzelnen DP-Lagern geschaffen worden waren, wie z.B. die Gruppe »Amcho« (in Feldafing), die mit ihren Aufführungen und Revuen weit über das eigene Lager hinaus bekannt wurde. Diese tüchtigen Ostjuden, die das DP-Lager-Dasein, besonders aber auch das jüdische Leben in München und deren Umgebung überaus künstlerisch bereicherten, trugen einen enorm wichtigen Beitrag zur Übermittlung ihrer Kultur bei, nämlich der jiddischen. bei: Sie stärkten bei den meisten Überlebenden wieder das Selbstbewußtsein.

Mit einer gebührenden Feierlichkeit wurde am 20. Mai 1947 im Beisein des amerikanischen Militärgouvemeurs für Bayern, General Lucius D. Clay, und Vertretern der Stadt das wiederherrichtete jüdische G’Teshaus eröffnet. Nach dem Angedenken an die 6 Millionen von den Nazis ermordeten Juden und der Enthüllung einer Gedenktafel überreichte der Staatskommissar für die Betreuung der rassistisch und politisch Verfolgten, Phillip Auerbach, dem ersten Münchner (Nachkriegs-)Rabbiner, Aaron Ohrenstein, den Schlüssel der Synagoge.

Trotz dieser im gewissen Sinn positiven Lichtpunkte für die jüdischen Überlebenden, darf nicht über die deprimierende Situation hinweggesehen werden, in der sich die Juden weiterhin befanden. Die aus den KZ’s befreiten Juden, die in die verschiedenen DP-Lager gemeinsam mit »Displaced Persons« anderer Nationen eingewiesen wurden, sahen sich erneut hinter Stacheldraht, und in den Lagern war die Versorgung zunächst miserabel, es herrschte Hunger. Ferner verstand es die Leitung der Lager - sie unterstand bis Oktober 1945 der US-Armee - kaum, mit dem Problem umzugehen, daß sich unter den nichtjüdischen DP‘s auch solche befanden, die ehemals auf der Täterseite standen (Ukrainer, Balten etc.) oder trotz der grausamen Tatsachen immer noch groteske antisemitische Haltungen einnahmen (wie z.B. ein Teil der polnischen DP‘s). Die Lage der Juden verbesserte sich erst, als eigene jüdische DP-Lager eingerichtet wurden, der Stacheldraht beseitigt und die bewaffneten Wachen abgezogen waren. Und doch, es blieb die wesentlichste aller Fragen offen: Was soll mit den vielen heimatlos gewordenen Juden, die in den DP-Lagern zusammengewürfelt lebten, weiter geschehen?

Am 27.Januar 1946 fand im Münchner Rathaus, nach dem beispiellosen Vernichtungsfeldzug gegen die jüdischen Menschen in Europa, erstmals wieder eine »jüdische Tagung« statt, die sich eingehend mit der Situation der Überlebenden beschäftigte.

Obwohl sich jeder einzelne Deutsche seiner Funktion während der NS-Zeit sehr wohl bewußt war, stülpten man sich kollektiv die allgemein vertretene Unwissenheit über. Und mit dieser Amnesie begab man sich in die Nachkriegszeit und unterzog sich gezwungenermaßen der sogenannten Entnazifizierung, die eigentlich gar keine war, sondern eher eine Reinigungsaktion bei der man sich gegenseitig >Persilscheine< ausstellte.

Insofern - im übertragenen Sinn - hat Ernst Landau mit dem, was er 1959 schrieb, bis heute recht behalten; nämlich:  

>Wäre der Nationalsozialismus vorher und rechtzeitig von innen her überwunden worden, das Judentum dürfte uneingeschränktes Vertrauen in die deutsche Demokratie besitzen.<

Wenn also involvierte Nazis, wie Hans Globke [i] , später als Staatssekretär im Kanzleramt für die Bearbeitung der ‚Wiedergutmachung‘ fungierte, oder Theodor Oberländer [ii] , schon im 3. Kabinett Adenauers (1957-1960) gar als Bundesminister für Vertriebene amtierte, und ehemalige SA und SS-Mitglieder im >Kalten Krieg< zu >NATO Kameraden< werden konnten, so war es doch für jeden ‘kleineren‘ Nazitäter ganz einfach logisch, daß auch er sich nicht mehr für seine Taten zu schämen und nicht mehr zu verstecken brauchte.

H. Liepmann notiert in seinem Buch >Ein deutscher Jude denkt über Deutschland nach<: [iii]  

>Alle diese früheren aktiven Nazis behaupten, und ihre hohen Protektoren bestätigen es, daß sie sich geändert hätten, daß sie ihre Lektion gelernt haben. Das ist durchaus möglich. Aber wir fragen uns manchmal besorgt, ob diese wandelbaren Herren sich nicht eines Tages wieder wandeln werden.<

Auf die von Liepmann befürchtete Wandlung mußte nicht lange gewartet werden. Schon im Jahre 1955 waren zwei große Artikel in der >Allgemeinen Wochenzeitung< zu lesen, die eindringlich auf die Existenz der ‘Ewiggestrigen‘ einging. Daneben wurde auch die behördliche ‘Duldung‘ der faschistisch-propagandistischen Tätigkeit angeprangert, wo es hieß:  

>Noch kein Gericht der Bundesrepublik hat eines jener zweifel­haften literarischen Machwerke für moralisch untragbar erklärt, in denen ehemalige Nazigrößen unverblümt nationalsozialistische Propaganda betreiben. Hunderte von Veröffentlichungen pro-nazistischer Art sind in den letzten Jahren in deutschen Verlagen erschienen. Nicht eines dieser Machwerke ist verboten worden.<

Man muß sich vor Augen halten, daß zwischen Januar 1948 bis Mai 1957, es in Deutschland über 170 antisemitische Vandalenaktionen gegeben hat, und daß einige Juden sogar persönlich ‘aufgefordert‘ wurden, Deutschland zu verlassen.

Die Frage, warum Juden - vor allem Überlebende des Holocaust - überhaupt wieder ins Land der Mörder zurückkehrten oder sich dort niederließen, ist wahrlich schwer zu beantworten.

Und doch waren es gerade diese Juden, die Untergetauchten, die Überlebenden und Zurückgekehrten, die vielleicht unbewusst den ehemaligen Gemeinden in der frühen Nachkriegszeit wieder das Leben schenkten und für die kommenden Jahre lebensfähig gemacht hatten.

Keine Thematik wurde seltsamer und kontroverser zugleich behandelt, auch die Tatsache - daß nach all der Brutalität die von der Nazidiktatur ausging daß sich Juden wieder in Deutschland niederließen.

Noch im Mai 1966 schrieb der Journalist Walter Jacob im >ISRAEL-FORUM<:  

>Ein Thema, kaum zu behandeln: Juden in Deutschland heute, denn die offiziellen Gemeindevertreter, von den Orts-, Landes- und Bundesgewaltigen als Einlasungs-Schaustücke bei allen möglichen und unmöglichen Eröffnungen, Preisverleihungen, Gebäude-Einweihungen herumgereicht und mit einem Dunst staatsbürger­licher Förderung und obrigkeitlichen Wohlwollens umgeben, sind sicherlich die letzten, die Auskunft geben könnten.<

Damals, nach dem Holocaust, tat man sehr wenig - fast nichts - um sich mit den Juden auszusöhnen und auch heute  [iv] hat sich kaum etwas wirklich im ‘Normalverhalten‘ gegenüber den Juden geändert.

Man operierte sozusagen in einem Vakuum zwischen »Philosemitismus« und »Antisemitismus«.

Und überhaupt, wenn man einen Vergleich ziehen würde zum jüdischen Leben, welches über Jahrhunderte bis zum Jahre 1933 – trotz der äußerst wechselvollen Geschichte -, bestand und hieran die Gegenwart bewerten will, so würde die Beurteilung der heutigen Situation der Juden in Deutschland und München - trotz aller kultureller sowie sozialer Bemühungen - als ungenügend gewertet werden.

Schon alleine der Zahlenvergleich mit den Jahren vor 1933, wo einst rund 566.000 Juden in Deutschland lebten, und der gegenwärtigen Größenordnung, die höchstens noch 10% davon ergeben, zeigt ungeschminkt den Schaden, den der Rassenwahn in diesem Land angerichtet hat.  [v]

Ungeachtet dieser Tatsache sind doch wieder einige zurückgekehrt, wie es der bekannte 

Journalisten und späteren herausgeben der >Allgemeinen<, Karl Marx, notierte:  

>Wir sind zurückgekehrt, weil wir es für unsere Pflicht gehalten haben, uns den Glaubensgenossen zur Verfügung zu stellen, denen es nicht gelungen ist, in die Emigration zu gehen, die aber trotzdem das Glück hatten, ihren Verfolgern zu entkommen. Wir sind aber auch zurückgekehrt, weil wir geglaubt haben, daß wir von dem größeren Teil des deutschen Volkes gestützt werden...< [vi]

Diesem ‘moderaten‘ und mit voller Hoffnung geschriebenen Text können zwei ebenfalls realistische Aussagen gegenübergestellt werden, nämlich die von Robert Weltsch>Deutschland ist kein Boden für Juden<; und jene Aussage von Henryk van Dam, dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland: >dass Deutschland weder ein Einwanderungsland (...)  noch ein Rückwanderungsland sein könnte<.

Diese beiden Zeitzeugen haben natürlich recht, und van Dam bringt es gewissermaßen auch klar und ungeschminkt zum Ausdruck: >Man kann die Uhr der Geschichte nicht zurückstellen und da anfangen, wo man aufgehört hat<.

Die Beweggründe einzelner Juden - ob sie nun seit 1945 nach Deutschland zurückgekehrt waren oder da verblieben, und was die Juden der ehemaligen Sowjetunion bewegte sich seit 1990 gerade hier, in diesem Lande niederzulassen -, sind äußerst vielfältig und individuell zu betrachten; und ihre Argumente – welche auch immer – sind jedenfalls zu akzeptieren.

Die größten Schwierigkeiten für Juden, die rasch auswandern wollten, bestand zum einen darin, daß die Briten - wie bereits schon während des Krieges - die Emigration nach Palästina zu begrenzen, ja sogar zu verhindern versuchten. Andere Staaten wiederum bemühten sich vorrangig zuerst die eigenen, aus den Nazi-Lager befreiten Staatsangehörigen zurückzuholen. 

Last not least – und das traf bei sehr vielen zu - verzögerte besonders der gesundheitliche Zustand der jüdischen Überlebenden die Aufnahme ins Auswanderungsland. In solchem Fall, wie beispielsweise eine Erkrankung, setzte man die ausreisewilligen Juden auf (lange) Listen, ließ sie Wochen, Monate ja sogar mehr als ein Jahr warten, ehe sie wieder an die Reihe kamen.

Daraus ergab sich die Notwenigkeit jüdischen Gemeinden wieder zu aktivieren, zumal für diese Überlebenden Bedürfnisse entstanden, die ein funktionstüchtiges Gemeindeleben forderte: zum einen waren es religiöse Anliegen und zum anderen Fragen, die die kulturellen und sozialen Probleme betrafen, und schließlich ging es auch um Belange die alle Überlebenden angingen.

Im >Jüdischen Gemeindeblatt< vom November 1946 zieht Karl Marx ein trauriges Resümee:  

>Man überließ die Juden nach der Befreiung ihrem Schicksal. Die alliierten hielten es für ihre selbstverständliche Pflicht, ihre Landsleute auf dem schnellsten Weg aus den Konzentrationslagern zu nehmen und sie heimzuführen.

Die deutschen Juden mußten ihren Weg nach Hause alleine antreten. Die einzige Hilfe, die ihnen geboten wurde, war die Hilfe, die diejenigen Juden brachten, die sich in den letzten Jahren des nationalsozialistischen Regimes versteckt halten konnten.<

Doch auch die Frage der ‘Rückerstattung‘ und ‘Wiedergutmachung‘ mußte rasch behandelt und intensiviert werden, um die Existenz der in Deutschland verbliebenen Juden einschließlich der von ihnen geschaffenen Organisationen zu sichern..

Unabhängig davon, ob nun Juden in Deutschland verbleiben oder bald auswandern würden, mußte ein klarer Weg gefunden werden, um eine ausreichende Hilfe aller jüdischer Notleidenden zu gewährleisten. Denn unzählige der Überlebenden waren durch physischen wie psychischen Schäden zu Frührentnern geworden, und die meisten von ihnen waren in vieler Hinsicht auch gar nicht im Stand sich selber zu helfen. Bis 1947 konnten über 90% aller sich in Deutschland befindlichen Juden ihren Lebensunterhalt nicht ohne einer Unterstützung bestreiten. Kranke und ältere Menschen, die oft als einzige ihrer Familie den Holocaust überlebt hatten, bedurften einer speziellen Fürsorge. Kinder und Jugendliche, die nichts anderes als das trostlose KZ-Dasein kannten, mußten einer Schul- und Berufsbildung zugeführt werden, usw...

Für all diese Anforderungen fehlte es den jüdischen Gemeinden nicht nur an finanziellen Mitteln sondern auch an entsprechenden Räumlichkeiten. Denn das Vermögen der deutschen Juden war im Zusammenhang mit dem NS-Vernichtungsprozeß enteignet, und die jüdischen Einrichtungen waren entweder seit der Pogromnacht von 1938 zerstört oder fielen während des Krieges den Bomben zum Opfer. 

Um nun die Rückerstattung jüdischen Eigentums zu bewirken sowie die Problematik der ‘Wiedergutmachung‘ zu lösen – was sich beides schmerzlich über Jahre dahinschleppte -, mußte eine entsprechende Interessengemeinschaft gebildet werden. Dies erfolgte am 19. Juli 1950 mit der Gründung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der erste Vorsitzende des Zentralrats, van Dam, notierte dazu:  

»(es) bestand die Notwendigkeit, zu einer engen Zusammenarbeit aller Gemeinden Deutschlands in Gemeinschaft mit anderen Verfolgtengruppen zu einer einheitlichen Gesetzgebung zu gelangen. Dieses Bedürfnis nach einer zentralen Vertretung machte sich mehr und mehr fühlbar, und zweifellos ist die Problematik der Wiedergutmachung für die Gründung des Zentralrates der Juden in Deutschland ausschlaggebend gewesen

Der Zentralverband blieb bis heute die Dachorganisation und die Vertretung aller jüdischen Gemeinden in Deutschland, die selber Wiederum  [vii] in Landesverbände zusammengeschlossen sind. Darüber hinaus versteht sich der Zentralrat als politische Interessensvertretung aller Juden in Deutschland, als Bekämpfer des Antisemitismus und Rechtsradikalismus und ist gleichzeitig auch als Unterstützter für den Staat Israel tätig.

Die Aufgabe der Landesverbände, wie es das Beispiel der Satzung des Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden Bayern aufzeigt, versteht sich wie folgt:

>§3c) - Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft, die keiner bestehenden Gemeinde angehören, bilden eine Diaspora-Gemeinde. Die Mitglieder einer Diaspora-Gemeinde sind dem Landesverband angeschlossen; ihre religiösen, religiös-sozialen und kulturellen Belange werden unmittelbar vom Landesverband wahrgenommen.<

Das heutige religiöse Leben der Juden in Deutschland steht - wie schon erwähnt - in keinem Vergleich zu jenem, welches einst bis 1933 in diesem Lande bestand. Denn es existieren bis heute weder das Rabbiner-Seminar  [viii] zu Berlin, oder irgend eine der ehemaligen Jeschiwot, die einst, selbst in verschiedenen kleineren bayrischen Städtchen zu finden waren, noch wurde je wieder irgend ein Rabbiner-Verband  [ix] oder eine Jeschiwa in Deutschland gegründet.

Nachdem weitgehend die Eigentumsrechte, die Rückgabe und auch die Verhandlungen bezüglich der ‚Wiedergutmachung‘ günstig verlaufen waren - eigentlich ist das Ganze nichts anderes als ein ‘Kleinkrieg gegen die Opfer‘ gewesen -, war es nun den jüdischen Gemeinden gegeben ‘ordentlich‘ ihre Arbeit aufnehmen zu können.

‘Ordentlich‘, daß heißt, daß die jüdischen Gemeinden nun autonom und gewissermaßen finanziell gesichert ihre Arbeit aufnehmen konnten. Man war vom Anfang an darauf bedacht, daß die kulturellen und erzieherischen Strukturen ausreichend gefächert angelegt wurden. So haben schon viele jüdischen Gemeinden eigene Kindergärten, und größere Gemeinden sogar auch eigene Grundschulen geführt. Im Vergleich zu früher, also vor 1933, galt dies als eine normale Tatsache, daß den jüdischen Gemeinden - nicht nur denen in den Großstädten - jüdische Kindergärten, Schulen und Gymnasien, sowie andere Bildungsstätten unterstanden.

Die aller erste Adresse für die Juden in München der frühen Nachkriegsjahre - neben der Synagoge, versteht sich - lag in der Möhlstraße. Hier in Bogenhausen lebten vor dem Krieg mehrere wohlhabende jüdische Familien in ihren Villen. Diese Villen wurden 1938 durch die Nazis >arisiert<, sprich geraubt und höheren NS-Funktionären zu Spottpreisen zur Verfügung gestellt.

Nach dem Krieg wurden mehrere Villen durch die US-Militär-Verwaltung beschlagnahmt und einigen jüdischen Hilfs- und Kulturorganisationen überlassen, wodurch sich hier bald für die jüdische Gemeinde München ein aktives kulturelles Zentrum entwickeln konnte.

Wenige Monate nach Kriegsende, im Juli 1945 wurde das >Zentralkomitee der befreiten Juden in Bayern< geschaffen. Es geht auf die Initiative des amerikanischen Militärrabbiner Abraham J. Klausner, Rabbiner Max Brand und auf Irving Smith, dem Feldafinger Kommandanten zurück. Der Sitz des ZK befand sich zuerst in den Räumlichkeiten des Deutschen Museums, ehe es später in die Möhlstraße 43 übersiedelte. Die Aufgaben des ZK bestand darin allen Juden die Rat suchten eine Unterstützung zu gewähren. In kurzer Zeit entstand auf dieser Weise ein Erziehungsamt, einen Suchdienst, natürlich ein Rabbinat und noch einige weitere entsprechende Einrichtungen. Daneben existierte auch das >Münchner Komitee der befreiten Juden<  [x] , ein Gesundheitsamt und (in der Möhlstraße 12a) das Kulturamt. Das letztere leistete eine schwierige Arbeit, nämlich das jüdische Geistes- und Kulturleben wieder zu aktivieren. Dank ihrer Tätigkeit entstand eine Bibliothek, Fachschulen und Ausbildungsstätten, wo neben dem Lehrbetrieb auch Kurse verschiedener Bereiche abgehalten wurden.

Des weiteren gab es, seit 21. Februar 1946, in der Möhlstraße 43, die ambulante Jüdische Poliklinik, doch das Krankenhaus wie auch die eigene Apotheke wurden - aus Platznöten - in das Bogenhausener Krankenhaus verlegt. Dies ist vor allem dem Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Wulf Peisachowicz, zu danken, dem es gelang, daß die Stadt München diese Räumlichkeiten frei gaben.

Ebenfalls in der Möhlstraße befand sich der Hilfsverein für die jüdische Diaspora, Merkaz LaGola, der Sportclub Makkabi, sowie das Münchner Büro der Keren Kajemet le-Israel (Nationalfond) und für eine geraume Zeit auch die orthodoxe Synagoge.

Im Jahre 1957 entstand - ebenso in der Möhlstraße - das >Heim für die jüdische Jugend<, das >Maon ha-Noar<, was später in >Jugend- und Kulturzentrum< umbenannt wurde. Hier gab es einen Tischtennisraum, ein Bastelzimmer, ein Fotolabor, einen Jazz-Keller sowie einen Bühnensaal, wo eine äußerst aktive Laiengruppe interessante Stücke nicht nur probte sondern auch erfolgreich aufführte. Nach dem Attentat bei den Olympischen Spielen, 1972, wurde das Jugend- und Kulturzentrum aus Sicherheitsgründen in die Prinzregentenstraße verlegt, wo es sich noch heute befindet.

Da sich viele der wichtigen jüdischen Organisationen in und um die Möhlstraße konzentriert hatten, witzelte man schon seitens der Anwohner über die Straßenbahn Linie 18, sie sei der >Palästina Expreß<.

Die unzähligen jüdischen Friedhöfe, vor allem die der ländlichen Regionen, die heute nicht mehr genutzt werden und den einzelnen Landesverbänden unterstellt sind, stellen als ‘Haus des Ewigen Lebens‘ gerade wegen der Jahrhunderte alten Grabsteinen einen kulturgeschichtlich wertvollen Nachweis der jüdischen Gemeinen dar. Daher gehört es auch für die Münchner Jüdische Gemeinde zur wichtigsten Aufgabe ihre beiden jüdischen Friedhöfe zu Pflegen. Der eine, an der Thalkirchner Straße, der 1816 eingeweiht Friedhof, beherbergt rund 6.000 Gräber, von denen sich nach Kriegsende viele in einem trostlosen Zustand befanden.  [xi]

Der andere, an der Garchinger Straße, blieb weitgehend unzerstört so daß die Renovierungskosten sich auf lediglich DM 9.000,- begrenzen ließ.

Jüdische Friedhöfe oder Gräber sind - nach jüdischem Gesetz -, egal in welchem Zustand sie sich auch befinden mögen, nicht auflösbar, der der letzte Ruheort ist für den Toten ein ‘persönlicher Besitz‘ bis zum Ende der Weltzeit, dem großen Gericht.

In den ländlichen Gegenden hatte hat man die Instandsetzung der Friedhöfe viel zu spät erst wahr genommen. Sie lagen brach und wurden nicht selten - nach dem Krieg - von den Alt- wie Neonazis verwüsteten. Diese >Beth Olamim< heute wieder herzurichten kosten ein vermögen. Trotz des Vandalismus, blieb wenigstens vielen deutschen und auch bayrischen Friedhöfen das Schicksal erspart, das den polnischen Grabsteinen zuteil wurde: dort nämlich verwendete man in der Nachkriegszeit die Steine größtenteils für den Straßen- und Hausbau.

Bezüglich der bisher erwähnten Aktivitäten der jüdischen Gemeinde soll eine Stelle aus D. Kuschner Dissertation >Die jüdische Minderheit in der BRD<  [xii] zitiert werden, der darin notierte:  

>Eine kardinale Rolle in der Konsolidierung der jüdischen Gemeinden in der BRD spielten die öffentlichen Mittel, die auf Bundes-, Länder- und Lokalebene zugeleitet wurden.

Es ist nicht denkbar, daß die Geschichte der jüdischen Minderheit im Nachkriegsdeutschland (so) verlaufen wäre und weiter sich fortschrittlich entwickeln wird ohne großzügige finanzielle Hilfe an die jüdischen Institutionen.<

Diese sogenannten ‘öffentlichen Mittel‘ die angeblich so ‘großzügig‘ an die jüdischen Institutionen und Gemeinden geleitet wurden, waren jedoch nichts anderes, als die offiziell vereinbarten Teilbeiträge aus dem Topf der sogenannten ‘Wiedergutmachung‘.

Davon abgesehen - was einige der deutschen Mitbürger vielleicht nicht wissen -, müssen Mitglieder einer jüdischen Gemeinden, genauso wie ihre christlichen Mitbürger, Beiträge (also Kirchen- bzw. Kultussteuer) zahlen, was summa summarum ebenfalls zum finanziellen ‘Überleben‘ der jüdischen Gemeinden beiträgt.

Ehe nun auf die 60er Jahren eingegangen wird, soll - quasi als Abrundung der vorangegangenen Abschnitte - der Name eines Mannes in Erinnerung gebracht werden, der wie kaum eine andere Persönlichkeit in der Nachkriegszeit Bayerns dermaßen öffentliche Anerkennung wie Achtung besaß, und gleichzeitig aber auch so viel massive Kritik erhielt wie der >Generalanwalt für Wiedergutmachung<, Dr. Philipp Auerbach. Sein tragischer Fall erhitzte selbst noch im Jahre 1992 die Gemüter, als in mehreren Zeitungen an dessen Tod, von 1952, erinnert wurde.

Auerbach (*1909), stammte aus Hamburg, emigrierte 1933 nach Belgien, wo er eine Chemikalien-Import-Export-Firma gründete und bis 1940 leitete. Im Mai 1940 wird er von den Belgiern als ‘feindlicher Ausländer‘ nach Frankreich abgeschoben, wo er in ein Internierungslager geriet und im November 1942 von den Franzosen der Gestapo ausgeliefert wird. Die Nazis brachten ihn in das berüchtigte Berliner Polizeigefängnis am Alexanderplatz von wo er Ende 1943 Anfang 1944 nach Auschwitz deportiert worden war. Nach der Auflösung des Lagers, 18.1.1945 wurde er wie viele Tausenden anderen Häftlingen über das KZ-Groß-Rosen zu Fuß nach Buchenwald getrieben. Nach seiner Befreiung, 11.4.1945, ging Auerbach nach Düsseldorf, wo er ab September für die Abteilung >Fürsorge für politisch, religiös und rassisch Verfolgte< arbeitete, ehe er am 10.10. 1946 durch die bayerische Staatsregierung zum >Staatskommissar für die Betreuung der Opfer des Faschismus< ernannt wurde.

Daß dieses Amt kein leichtes war, wußten alle, zumal auch Auerbach formal keine Voraussetzungen zu dessen Leitung mitgebracht hatte. Die Problembewältigung zur Hilfestellung der sog. >Displaced Persons< als auch deren Unterbringung stellte hohe Anforderungen, wobei das dringlichste Anliegen darin bestand, möglichst vielen Betroffenen zur baldigen Auswanderung zu verhelfen. 

Was Philipp Auerbach darin vollbrachte, stellte sich alsbald als großer ‘Segen für den Staat‘ (Bayern) dar.  [xiii] Mit seiner in der Tat genialen Improvisationskunst und ungewöhnlichen Fähigkeit schwere Probleme zu lösen konnte er jedenfalls wesentlich mehr leisten, als ein ‚normaler‘ - wie immer auch - nach dem Gesetz arbeitender Bürokrat. Was freilich zu seinen Gunsten stand war die Tatsache, daß es für die Tätigkeit eines Staatskommissars zu dieser Zeit so gut wie noch keine klaren Vorschriften gab, was ihm einen unkontrollierbaren Ermessensspielraum eröffnete. Das heißt, daß er bei der Vergabe von Wiedergutmachungsgeldern nach eigenem Gutdünken handelte und so unzähligen helfen konnte.

Als Verwalter der >Stiftung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts< genoß er hohes Ansehen, wurde von den Hilfesuchenden förmlich belagert, von seinen Mitarbeitern geachtet und galt bei der US-Militärregierung als ‘persona grata‘; und in der USA galt er gewissermaßen sogar als ‚Wegbereiter der Wiedergutmachung‘. Mit diesen Lorbeeren ausgestattet wurde Philipp Auerbach am 16.11. 1948 zum >Generalanwalt für Wiedergutmachung< ernannt, sollte fortan nur noch die Interessen der Opfer wahrnehmen und mit der Verordnung vom 22.11.1949 erhielt seine Behörde die Bezeichnung >Bayerisches Landesentschädigungsamt<.

Je mehr Ehre man Auerbach erwies um so größer und lauter wurden nun auch die Kritiken gegen ihn: unversöhnliche Reden im Rundfunk, Vorwegnahme politischer Entscheidungen, Einmischung in fremde Zuständigkeit, Angriffe gegen die Staatsregierung, Bevorzugung der rassistisch Verfolgten, usw... Viele der Vorwürfe waren aus der Luft gegriffen und hielten der näheren Prüfung kaum statt. Auerbach wurde viel mehr ein unliebsamer Mann dadurch, daß er stets - obwohl erst kürzlich das Nazireich sein Ende fand - auf den fortwährenden Antisemitismus aufmerksam machte, der gerade in Bayern fortbestand. Im >Donau-Kurier< veröffentlichte Auerbach anhand von eidesstattlichen Erklärungen skandalöse Vorkommnisse, aus denen u.a. hervorging, daß es immer häufiger vorkam, ‚daß in Geschäften und Gastwirtschaften die Inhaber sich weigern, an Juden etwas zu verkaufen‘. Dies erinnerte natürlich an die schlimmsten Tage des Dritten Reichs, daß in Bayern in den 50er Jahren noch fortzubestehen schien! [xiv] Weitaus schwerwiegender traf Auerbach jedoch der Vorwurf des Obersten Rechnungshofes, der schon früher [xv] das Fehlen einer Buchführung und den ‘mangelnden behördlichen Charakter‘ des Staatskommissariats beanstandete. Die Ereignisse überschlugen sich förmlich: Ein Prüfungsbericht vom 7.7.1950 rügt die Verschuldung des Landesentschädigungsamtes, sowie Mißstände bei der Gebührenerhebung. Auerbach äußert sich dazu am 17.10.1950, die Gegenäußerung des Rechnungshofes erfolgte am 10.2.1951. 

Inzwischen griff Justizminister Josef Müller - >Ochsensepp< ein eifriger Nazi, der dem SD [xvi] angehörte - Auerbach heftig vor dem Landtag an.  [xvii] Alles zielte darauf hin einen riesigen Betrugs- und Finanzskandal ‚aufgedeckt zu haben‘. Am 10.3.1951 wird Auerbach auf der Autofahrt nach München von einem Polizeikommando gestellt, unter dem Vorwurf des Betruges verhaftet und in Untersuchungshaft genommen.

Am 14.4.1952 wurde vor dem Landesgericht München I der Prozeß eröffnet, der eigentlich nichts anderes war - die inhaltlichen Anklagepunkte [xviii] schrumpften sehr bald in ein Nichts zusammen – als ein spekulativer Schauprozeß mit und für ‚einstige‘ Nazis. Der ehemalige SD Müller, ernannte seinen früheren Mitarbeiter, den einstigen Oberkriegsgerichtsrat Josef Mulzer, nun als Vorsitzenden Richter. Der wiederum hatte einen alten SA-Mann als Beisitzer und der vom Gericht ‚beauftragte‘ psychiatrische Sachverständige, der Auerbach als ‘pseudologischen Psychopathen und Phantasten‘ beurteilte, war selbst ein unverbesserliches NSDAP-Mitglied!

Noch während des Verfahrens gegen Auerbach, das zusehends immer weniger eine Schuld beweisen konnte, mußte der Justizminister Müller zurücktreten, weil seine eigene Verwicklung in der ‚Affäre Auerbach‘ an die Öffentlichkeit drang. 

Das ganze war eben eine sonderbare Show ‚ungewandelter‘ Nazis, deren es gar viele gab, gegen einen Juden, und wie es das in New York gegründete >Committee on Fair Play for Auerbach< richtig erkannte: es sich hier eigentlich eher ‚um einen brisanten politischen Prozeß‘ handelte. Dr. Mulzer, der Auerbach in puncto der wesentlichen Anklagen freisprechen mußte, suchte auf andrer Ebene ‚dem Juden‘ habhaft zu werden. Die Verhandlung endete am 14.8.1952 mit der Verurteilung Auerbachs zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und zu 2.700 DM Geldbuße. In seinem Abschiedsbrief [xix] schrieb Philipp Auerbach:  

>Nicht aus Feigheit, nicht aus einem Schuldbekenntnis heraus handle ich, sondern weil ein Glaube an das Recht für mich nicht mehr besteht... Man hat mir Unrecht getan. Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kan das entehrende Urteil nicht weiterhin ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst! Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen. 

Dr.Auerbach<

Der 46jährige schied nach der Urteilsverkündung, noch in der gleichen Nacht, durch eigene Hand aus dem Leben. Am 18.8.1952 wurde Dr. Philipp Auerbach unter großer Anteilnahme auf dem jüdischen Friedhof im Münchner Norden beigesetzt. Diese Tragödie, sie ist nicht die einzige gewesen, die sich Bayern gegen Juden schuldig machte, führte selbst die Presse - die gesamte Bayerische Presse beteiligte sich an der Hetzkampagne -, zu nachdenklichen Kommentaren. Vier Jahre später bewies der vom Bayerischen Landtag eingesetzte Untersuchungsausschuß die Unschuld und schloß mit der völligen Rehabilitation Auerbachs.

1992 erschien u.a. auch in >DIE ZEIT< [xx] von Wolfgang Kraushaar ein interessanter Bericht zum Fall Auerbach, mit der Überschrift >Das Kesseltreiben<. Was dieser ganzseitige Artikel auszudrücken versuchte, bringt eigentlich noch klarer der knappe Leserbrief von H. J. Elija Lautenschlager (Brooklyn, N.Y) auf den Nenner, den wir hier abschließend wiedergeben möchten:  

>Philipp Auerbach ist an seinem Glauben an ein Weiterwirken der ‚deutsch-jüdischen Existenz‘ zerbrochen. Und er ist dem Irrglauben erlegen, daß Deutschland (bloß) von einer Verbrecherclique regiert worden ist. In Wahrheit waren die Deutschen zu 99,99 Prozent an den Verbrechen beteiligt. 

Auerbach ist an seinen Glauben zugrunde gegangen, daß dem jüdischen Volk Gerechtigkeit zuteil werden müßte. Allein die Amerikaner wären dazu in der Lage gewesen. Daß es nicht dazu kam, lag an der postwendend Übernahme des wüsten Antikommunismus der Nazis. Es war notwendig, Deutschland schnell wieder aufzupäppeln, um einen Prellbock zu haben. 

Dabei konnte man keine jüdischen Störenfriede gebrauchen. Also gab man die endgültige Lösung der ‘Judenfrage‘ zurück in Henkers-Hände.<

Diese Worte brauchen dem Leser gar nicht kommentiert werden, sie sprechen die Wahrheit über die tatsächliche Situation der Nachkriegszeit in Deutschland und Bayern in klaren Worten aus.

Die ‘endgültige Lösung der Judenfrage ‘ wurde in der Tat in die Hände der ‘Henkers-Hände‘ zurückgelegt...

Im Dezember 1957 legte der Koordinierungsrat der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit eine Statistik vor, aus der zu entnehmen war, daß in dem Zeitraum vom 1.1.1948 bis zum 31.5.1957 - also annähernd zehn Jahre - 176 jüdische Friedhöfe geschändet und erheblich verwüstet wurden.

Als man in die 60er Jahre hinüber schritt, erhöhte sich die ‘Buchhaltung‘ der Friedhofsschändungen bereits auf annähernd 200. Hinzu kommt noch, daß am christlichen Fest aller Feste, in der Nacht vom 24. zum 25.Dezember 1959, die Kölner Synagoge und der Gedenkstein für die Opfer des Nationalsozialismus in Köln, von Mitgliedern der DRP (Deutsche Reichspartei) geschändet wurde, und, ab diesem Zeitpunkt bis zum 28.Januar 1960, außerdem noch - insgesamt - 470 weitere antisemitische Vorkommnisse registriert worden sind. Am Jahresende von 1960 zeigte die Statistik des Bundesamt für Verfassungsschutz - bloß für dieses Jahr(!) - 1.206 antisemitische und nazistische Vorfälle auf; wobei ein nicht unerheblicher Anteil auch auf Bayern abfiel. In eben annähernd gleich hoher Zahl ereigneten sich in der BRD die antisemitischen Übergriffe von 1960 bis 1965. Ferner gab es in Bamberg alleine, am 13.6.1965, antisemitische Ausschreitungen, denen bald darauf noch sechs weitere folgten.

Wie wenig die Deutschen aus ihrer Vergangenheit gelernt haben beweist schon die Tatsache, daß nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern die NPD ‚erstmals‘ in den Länderparlamenten in München sogar mit 15 Mandaten!  [xxi] - vertreten waren; und das gleiche galt aber auch für das Verhalten der Deutschen selbst, gegenüber den wenigen Juden, die in den 60er Jahren noch in der BRD lebten.

Diese, vor allem zur Mitte der 60er Jahre erneut angestiegenen antisemitischen Agitationen waren de facto nichts anderes, als der kollektive, miese ‘Mundgeruch des schlechten Gewissens‘. Vielleicht gerade auch deshalb, weil seit dem 20. Dezember 1963 vor dem Frankfurter Schwurgericht der sogenannte Auschwitz-Prozeß begann, wo sich lediglich 22 Angehörige der Waffen-SS wegen Mordes ‘in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen‘ zu verantworten hatten. Am 183 Verhandlungstag, das war der 20.August 1965, als das Urteil gesprochen wurde, stand jedenfalls fest - wie es Hermann Langbein, einer der Zeugen des Prozesses formulierte: »daß dieser Prozeß der Öffentlichkeit unanfechtbare Tatsachen über einen Abschnitt der deutschen Geschichte vermittelte, die bis dahin für allzu viele im Dunkeln lag«.

Dabei lag die jüngere deutsche Geschichte eigentlich seit dem Kriegsverbrecher Prozeß in Nürnberg, und dem Eichmann-Prozeß (1961 in Jerusalem), gar nicht mehr so ‘im Dunkeln‘, wenn man ferner noch den ‘Pflicht‘-Besuch einiger Deutscher, auch der Münchner, wenige Wochen nach Kriegsende, in ihre nahegelegenen Konzentrationslager mit einbezieht.

Zwar wurde in den 60er Jahren das Schweigen gewissermaßen gebrochen - auch mittels Hochhuth‘s Drama >Der Stellvertreter< (1963) und Peter Weiß Stück >Die Ermittlung< und Heinar Kipphardt‘s >Joel Brand< (beide 1965) -, doch die Täter hielten sich nun auch nicht mehr bedeckt, sie reckten sich und bekamen von ihren Volksgenossen nicht nur ‚Mitleid‘ sondern auch reichlich Zustimmung, wie es die Statistiken der Wahlen eben aufzeigten.

Der israelitische Kultusgemeinde zu München stand, seit 1951 bis zu seinem Tode im Jahre 1969, als Präsident, der Rechtsanwalt Siegfried Neuland vor. [xxii] In seine Amtszeit während der 60er Jahre fällt die Gründung der Sinai-Schule (1966) sowie ein Kindergarten in der Möhlstraße.

Am 7. Mai 1967, fand unter großer Beteiligung, darunter zahlreiche ehemalige Häftlinge, die feierliche Einweihung der jüdischen Gedenkstätte auf dem Gelände des einstigen Konzentrationslager Dachau statt. Für die bayerische Staatsregierung waren anwesend Dr. Alois Hundhammer, der selber einst in diesem KZ inhaftiert gewesen war, mehrere Vertreter des Senats, des Landtags, sowie der Präsident des Comite International de Dachau, Gen. Major Dr. Albert Guerisse, der Botschafter Israels, Asher BenNathan, Abgeordnete der Kirchen und jüdischen Gemeinden und Organisationen, und ferner Dr. van Dam und Prof. Lewin, für den Zentralrat der Juden in Deutschland.

Dabei war aus einem Artikel der SZ zu entnehmen, das dieser Einweihungsfeier mehrere ‘Nazi-Aktionen‘ vorausgegangen waren. Sie war überschattet >von der Schändung des jüdischen Ehrenmals im Dachauer Friedhof auf dem Leiterberg. Der Vorfall am 1. Mai, bei dem ein Stein mit ‘Heil Hitler‘ und einem Hakenkreuz beschmiert worden war, hat bei der jüdischen Bevölkerung Abscheu und Empörung ausgelöst<. [xxiii]

 

Die Gedenkstätte wurde vom Frankfurter Architekten Hermann Guttmann entworfen und hat eine parabolische Grundform. Es wurde darauf bedacht (nicht wie die christlichen Konfessionen mit ihren Kirchen auf dem ehemaligen KZ-Boden) absichtlich keine Synagoge, jedoch bewußt aber eine geeignete Gedenkstätte zu errichten, da - wie es Guttmann zum Ausdruck brachte -: >eine Synagoge eine lebendige Angelegenheit sei, ein Ort, wo gebetet und G‘Tesdienste gehalten werden soll<.

Insofern entspricht es der Tatsache, was Hundhammer sagte und in der SZ vom 25./26.November 1967 zu lesen stand: >Was in Dachau geschah, kann menschlich nicht gesühnt werden, schon gar nicht durch Wiedergutmachung.<

In München, an der Stelle wo einst der prächtige spätromanische Bau der drittgrößten Synagoge in Deutschland stand, an der Herzog-Max Straße unmittelbar hinter dem Karstadt-Komplexes, wurde am 9. November 1969 ein schlichter, aber wirkungsvoller Gedenkstein eingeweiht. Die Errichtung dieses Mahnmals ging auf eine der unzähligen Initiativen Dr. Sigfried Neulands zurück, der nur wenige Tage vor der Gedenkfeier verstarb. In seiner Ansprache, die bereits erarbeitet hatte und die durch seinen Tod ungesagt blieb, notierte Neuland:  

>Dieses Haus war das Denkmal einer Zeit, in der man unter glücklichen Umständen hätte schaffen und wirken und voller Stolz und Genugtuung auf das Erreichte sehen können. – Hier war der Brennpunkt des religiösen Lebens in der Gemeinde<.

Menschen, wie Siegfried Neuland, die es verstanden Kraft Ihres Wissens, ihres Geistes, ihrer Seele und im vollen Einsatz ihres unabweichlichen Pflichtbewusstseins, gemeinsam mit Rabbinern eine Gemeinde nach oben zu führen, gab es in der Nachkriegszeit leider gar wenige. Eine Persönlichkeit, die diesem Kriterium weitgehend entsprach war vor allem der viel geschätzte Hans Lamm.

Von 1970 bis zu seinem Tode, am 23. April 1985, prägte vor allem Hans Lamm, s. A., die Israelitische Kultus-Gemeinde München, der er als Präsident vorstand. Eine Persönlichkeit, die es verstand klug und besonnen die Gemeinde nicht nur nach innen, sondern dank seiner vielen Fähigkeiten auch nach außen hin zu vertreten.

Hans Lamm war (und blieb es auch) ein Kind Münchens, wo er am 6. Juni 1913 zur Welt kam. Auch der Vater, Ignatz Lamm, war ein Urbayer genauer gesagt ein Urschwabe, der aus Buttenwiesen stammte, wo nachweislich seit dem 16.Jahrhundert bis 1942 Juden ansässig waren. Die Mutter, Martha Lamm, kam aus dem polnischen Städtchen Raciborz (Ratibor), die es wie viele Ostjuden um die Jahrhundert wende nach Bayern verschlagen hatte. Hans Lamm und sein Bruder Heinrich, wuchsen im Stadtteil Lehel auf, er ging später die Volksschule in der Türkenstraße und legte 1932 an der Luitpold-Oberrealschule sein Abitur ab. Alles schien einen normalen Gang zu gehen, wenn nicht - ja wenn nicht - die Nazis ans Ruder gekommen wären.

Hans Lamm wollte eigentlich den Beruf der Juristerei (Rechtsanwalt) ergreifen, doch nach dem 3. Semester wurde es klar, daß sich das Blatt der Geschichte gewendet hatte, und er, als Jude, keine Chance haben würde diesen Beruf jemals ausüben zu dürfen. Darum wechselte er in das Fach der Journalistik über und so finden wir alsbald, von 1933 bis 1937, die ersten vom jungen Lamm geschriebenen Artikel, zunächst in dem Hamburger >Israelitischen Familienblatt< und dann auch in anderen jüdischen Publikationen. Etwa um diese Zeit begann er auch in der jüdischen Gemeinde im Bereich der Sozial- und Erziehungsarbeit tätig zu werden; ein Betätigungsfeld, daß er etliche Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Exil wieder in der jüdischen Gemeinde ausfüllen sollte.

1938 emigrierte Hans Lamm nach USA, wo bereits sein Bruder weilte und der Vater nach seiner Flucht aus dem KZ-Dachau nachfolgte; die Mutter war bereits 1931 in München verstorben.

In seiner ‚neuen Heimat‘ studierte Lamm von 1939-1941 an der Universität von Kansas City Soziologie und war daneben für verschiedene jüdisch-amerikanische Sozialistitutionen tätig. So kam er im Juni 1945 als Repräsentant der Hilfsorganisation UNRRA [xxiv] wieder nach München und versuchte mit anderen die schwierige Situation in den DP-Lagern zu mildern. Etwa um diese (1946) Zeit nahm Lamm in Nürnberg auch seine Tätigkeit als Übersetzer beim International Military Tribunal auf und betätigte sich wieder als Journalist. Lamm kehre für kurze Zeit nochmals in die USA zurück, ehe er sich ab 1955 endgültig wieder in Deutschland niederließ. Hier war er zunächst - in Düsseldorf lebend - Kultur-Dezenent des Zentralrats der Juden in Deutschland und übernahm ab 1960 bis zu seiner Pensionierung 1976 eine Leitende Stelle an der Volkshochschule in München.

1970, wenige Monate nach dem Tode von Dr. Siegfried Neuland  [xxv] , wurde Hans Lamm zum Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) von München. Diese Position, die übrigens eine unbezahlte, ehrenamtliche Tätigkeit ist, hatte Lamm bis zu seinem Tode mit unermüdlichen Eifer und mit großer Energie ausgefüllt und darum setzte er sich mit Aufopferung für jedes Mitglied und für jegliche Belange der IKG ein. Annähernd zwanzig Jahre war er auch Mitglied der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit; so, wie er sich auch stets darum bemühte einen Konsens zwischen andere Konfessionen und Kulturkreise zu finden und sich gleichzeitig auch für die Rechte von Minderheiten einzusetzen. Nicht nur daß unter seiner Ära ein reges Kulturleben in der Gemeinde stattfand, so trat er neben seiner kontinuierlichen journalistischen Tätigkeit, oftmals selber als hervorragender Rethoriker mit unvergeßlichen, weil überaus interessanten Vorträgen auf.

Doch die 15jährige Amtszeit von Hans Lamm, als Präsident der IKG München, hatte nicht nur viele kulturelle Höhepunkte und glückliche Ereignisse. So begann sein erstes Amtsjahr gleich mit einem dramatischen Schock, der eine grässliche Wunde hinterließ, die selbst bis zum heutigen Tag noch nicht geheilt zu sein schien. In der Schabbat-Nacht vom 13./14. Februar 1970, wurde das jüdische Altersheim durch einen Brandanschlag völlig verwüstet.

Dabei kamen sieben Bewohner ums Leben [xxvi] unter ihnen der Bibliothekar der IKG, Siegfried Offenbacher.

Dieser Fall blieb trotz intensiver Nachforschung ungeklärt und so wurden auch die Attentäter nie gefunden. Nach den Ermittlungen der Polizei dürfte das Feuer gegen 21 Uhr gelegt worden sein. Man ging davon aus, daß der/die Täter Benzin im Treppenbereich des Vorderhauses vergossen hatte(n), von wo sich das Feuer rasch in die oberen Etagen des Gebäudes ausbreitete. In diesem Haus, waren - neben dem besagten Altersheim - auch noch die Büros der IKG und ein Kindergarten untergebracht. Erst gegen 23.30 konnte das Feuer gebannt werden aus dem zuvor unter größer Mühe versucht wurde die Bewohner zu retten. Die Tragik an dem Geschehen war

noch, daß es sich bei diesen Opfern ausschließlich um Überlebende der Konzentrationslager handelte.

Daß einzige Ergebnis, daß dieser heimtückische Anschlag mit sich führte, war, daß fortan die jüdischen Einrichtungen, die bis dahin lediglich bedarfsweise geschützt oder beobachtet, nun – bundesweit – unter Polizeischutz gestellt wurden.

Der Schock war nicht nur in den jüdischen Gemeinden zu spüren, denn das Attentat bewegte selbst die höchste politische Ebene. An der Trauerfeierlichkeit, die am 18. Februar auf dem neuen Israelitischen Friedhof stattfand zeigte alles, was Rang und Namen hatte sein Mitgefühl. Die Erkenntnis kam aber bei vielen zu spät; denn schon lange trieben rechtsextremistische Gruppen ihr Unwesen, schreckten nicht einmal vor Morde zurück, und hinzu kamen noch, die von diesem Zeitpunkt an verstärkt auftretenden radikalen Palästinenser, die zunächst Europa weit mittels Terrorakte von sich reden machten.

Denn nur drei Tage vor dem Anschlag auf das Altersheim kam es auf dem Münchner Flughafen Riem zu einem dramatischen Vorfall, wo mehrere Araber versuchten ein israelisches Flugzeug zu entführen, bei dem ein jüdischer Passagier getötet wurde.

Die Süddeutsche Zeitung widmete am 19.Februar 1970 der Trauerfeierlichkeit unter der Überschrift: >Abschied von den Opfern der Attentate< eine ganze Seite. Aus dem einleitenden Text konnte man u.a. folgendes entnehmen:  

>Schweigend säumten Tausende von Menschen die Wege des kleinen, israelitischen Friedhofes in Freimann, als die Trauerfeier für die sieben Toten des Brandanschlags auf das jüdische Altersheim und für Arie Katzenstein, der beim Riemer Attentat ums Leben kam, drinnen in der Halle begann. Im Inneren hatten nur geladene Gäste Platz: als prominenteste Anteilnehmende Bundespräsident Gustav Heinemann, Innenminister Hand-Dietrich Genscher, Minister- Präsident Alfons Goppel, der bayerische Innenminister Bruno Merk, Landtagspräsident Rudolf Hanauer, die drei Münchner Bürgermeister, der israelitische Botschafter Eliashiv Ben-Horin, die Präsidenten der israelitischen Kultusgemeinden, Vertreter der beiden christlichen Konfessionen, Mitglieder des Bundes- und Landtags und des Senats...<

>Besser ist der Todestag als der Tag der Geburt< zitierte die SZ die Worte des damaligen Gemeinderabbiners Hans Isaak Gruenewald von den Särgen - >und er deutete das Wort: Wir Juden suchen selbst im grausamsten Geschehen das Positive, G‘Tes heilige Fügung. Dieser Märtyrertod der Opfer müsse erneut aufrufen, daß wir noch mehr als bisher unser Judentum leben müssen, damit die Welt die Botschaft vom Guten im Menschen verstehe, die vor dreieinhalb Jahrtausenden in Sinai verkündet worden sei.<

Rund zwei Jahre später ereignete sich ein weiteres dramatischen Ereignis - das ebenfalls in die Amtszeit von Hans Lamm fiel -, nämlich, 1972 die XX. Sommerspiele der Olympiade. Noch ehe die Spiele richtig begannen, fiel ein palästinensisches Terrorkommando über das israelische Team her und tötete die israelischen Sportler. Das ‘Gute im Menschen‘ ließ aber nicht – wie es eigentlich die Pietät verlangt hätte – die Spiele unterbrechen, sondern sie fanden unter dem Motto »The Life Goes On« statt. Man gaukelte sich etwas vor, oder wie es im Le FIGARO zu lesen stand: >Ein Abbruch hätte gleichzeitig den Sieg des Terrorismus und vielleicht das Ende einer Institution bedeutet...< Und schließlich wollte sich Willy Daume ‘seine Idee der heiteren Spiele‘ nicht »durch einen palästinensischen Terroranschlag« stören lassen ...

Gestört war gewissermaßen damals auch das Verhältnis zur Polizei, der es nämlich nicht gelungen war die Opfer effizient aus der Hand der Terroristen zu befreien. Der Überfall [xxvii] , sowie der fehlgeschlagenen Befreiungsversuch der Sondereinsatztruppe während der eher konfusen ‘Sonderaktion‘ auf dem Militärflughafen von Fürstenfeldbruck kostete schließlich elf Mitgliedern der israelischen Sportlermannschaft und einem deutschen Polizist das Leben.

Als die Hinterbliebenen im Jahre 1994 einen Prozeß anstrebten, in dem es, abgesehen einer Schadenersatzklage, viel eher um die ‘Untauglichkeit des Polizeieinsatzes‘ ging, reagierte Bayerns Ex-Innenminister Dr. Bruno Merk [xxviii] überaus verärgert: »Wir haben damals getan, was die ganze Welt von uns erwartet hat. Den Hinterbliebenen sind wir nichts schuldig.« Das war eine Haltung, die man bereits aus der frühen Nachkriegszeit kannte...

Andrerseits waren bereits – noch vor dem Ende der 70-er Jahre – die Akten vernichtet worden, vor allem jene, bei denen es sich um die Ermittlungsergebnisse gegen den damaligen Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber und seinen Stellvertreter Georg Wolf handelte. Das Verfahren gegen diese Beamten, denen grobe Fehler und Fahrlässigkeit vorgeworfen worden war, ist eingestellt worden.

Nun ja, das jüdische Leben in München konzentrierte sich nicht aus­schließlich auf die tragischen Ereignisse von 1970 und 1972.

In einer Statistik aus dem Jahr 1976 wies München 13,6 Prozent aller in der BRD und West-Berlin lebenden Juden auf [xxix] . Somit war die Münchner IKG - deren Gemeinderabbiner Hans I. Gruenewald und deren Präsident Dr. Hans Lamm war -, mit rund 3.790 Mitgliedern neben Berlin und Frankfurt am Main die drittgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Zu der Gemeinde gehörten die Synagoge >Agudat Achim<, in der Reichenbachstraße, eine weitere in Schwabing [xxx] sowie zwei weitere kleine Synagogen, ein neu errichtetes Altersheim und ein Ritualbad. 

Die Volksschule bestand zunächst aus drei Klassen, der Kindergarten und die religiöse Vereinigung >Talmud Tora<, waren schon seit den 60er Jahren wichtiger Bestandteil der Gemeinde.

Wie schon erwähnt, begann sich - vor allem unter Hans Lamms Führung - ein reges Gemeindeleben zu entwickeln, gerade mit der Schaffung eines Klubs für Jugendliche und Erwachsene wo Bildungsprogramme geboten wurden, ähnlich wie in der VHS; und die seinerzeit beim Attentat zerstörte Bibliothek wurde wieder neu eingerichtet [xxxi] .

Viele schon bestehende Einrichtungen und Organisationen waren überaus aktiv, so z.B. der Sportverein >Maccabi<, die Jugendvereine >Moria< und der religiösere >Bnej Akiba<, die Loge >Bnej Brit<, und die zionistischen Frauengruppe >Ruth< oder die >WIZO<, eine Hifsorganisation, die bis vor kurzem von der überaus geschätzten Anna Pultuskier geleitet wurde.

Auch wenn sich das jüdische Leben in der BRD in den 70er Jahren erstmals auch nach außen hin ‚normal‘ zu regen begann, so konnte jedoch von einer ‘normalen‘ Beziehung zur deutschen Umgebung noch lange nicht die Rede sein.

Denn der rechtskonservative Hintergrund in Deutschland dieser Jahre war noch ziemlich von den ‘Ewiggestrigen‘ geprägt, die ja in allen Parteien zu finden waren. Davon Abgesehen saßen seit Ende 1971 426 NPD-Abgeordnete in den Kommunalparlamenten; Gerhard Frey, der Chef-Ideologe der >Deutschen National Zeitung<, gründete in diesem Jahr auch seine DVU (Deutsche Volksunion) nebst obligatem Presseorgan: Deutscher Anzeiger. 

Der Bericht des Verfassungsschutz, Ende 1972, brachte Tatsachen hervor, die man eigentlich längst schon wußte: 1.413 öffentliche Bedienstete waren Mitglieder in rechtsradikalen Organisationen! [xxxii]

1973 veröffentliche der Gründer der BBI [xxxiii] , Thies Christophersen, erstmals sein Werk >Die Auschwitz-Lüge< mit einem Vorwort von Manfred Roeder. Noch im November dieses Jahres, zum 50.Jahrestag des ‚Marsches zur Feldherrnhalle‘ veranstalteten die Nazis eine Gedenkfeier in München mit einer Kranzniederlegung vor Ort.

Nicht nur, daß seit 1974 sprunghaft die rechtsextremistischen Publikationen gestiegen sind  [xxxiv] , so rückte die Bundeswehr nun vermehrt wieder in die rechte Ecke. So kam es beispielsweise im Februar 1977 zu antisemitischen Vorfälle an der Bundeswehrhochschule in München, die jedoch erst im September bekannt werden. Der Verfassungsschutz stellte für dieses Jahr fest: ‚vermehrte rassistische Agitation und ‚steigende Bereitschaft zur Gewaltanwendung in etlichen rechtsextremen Bereichen‘.

Im Januar 1978 kam es in München zur ‘Reichsgrundungsfeier‘ des >Deutschen Block< [xxxv] und im Februar selben Jahres werden die Synagoge und der jüdische Friedhof in Fürth geschändet.

Im September 1979 bestimmt der Bundesgerichtshof in einem Urteil:  

>Menschen jüdischer Abstammung haben aufgrund ihres Persönlichkeitsrechts in der BRD Anspruch auf Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Juden unter dem Nationalsozialismus. Wer die Judenmorde im ‚Dritten Reich‘ leugnet, beleidigt jeden von ihnen. Betroffen sind durch solche Äußerungen auch erst nach 1945 geborene Personen, wenn sie als ‘Volljuden‘ oder ‘jüdische Mischlinge‘ im Dritten Reich verfolgt worden wären.<

Immerhin Ende 1979 gab es 92 faschistische Periodicals mit einer Durchschnittsauflage von 175.ooo Exemplare; 1.483 Gewaltakte der Rechtsextremisten, davon hatten 272 Aktionen eindeutig antisemitischen Charakter, wo es u.a. auch zu zwei Sprengstoffanschäge kam, während der Ausstrahlung der TV-Serie >Holocaust<.

In Anbetracht der Aktivitäten der ‘ewigen Nazis‘, die es ungebrochen noch heute zu Haufe gibt, fällt einem die Rede des großen Dr. Van Dam [xxxvi] , dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland ein, die er 1972, ein Jahr vor seinem Tode vor der Franz-Oppenheimer-Gesellschaft [xxxvii] hielt.

>Noch heute<, so sagte Dr. van Dam, >ist es kein Vorteil, sondern ein Hemmnis, zur jüdischen Gruppe zu gehören.< Er wies weiters darauf hin, daß es bei der Anzahl von annähernd 30.000 Juden in Deutschland kein ‘Judenproblem‘, sondern nur ein deutsches Problem geben könne. Und von einer ‘Normalisierung‘ könne noch lange nicht die Rede sein. Unter diesem Begriff verstand er unter anderem die Aufgabe von Ressentiments, aber auch von Diskriminierungen, und van Dam wies darauf hin, daß die ‘deutsch-jüdische Symbiose‘, wie sie über lange Zeit bestanden habe, jetzt eher als ‘deutsch-jüdische Psychose‘ bezeichnet werden müßte. Und auch das Bild des Juden in Deutschland, das eng mit Israel verbunden sei, zeichnete van Dam ebenfalls nicht rosig ab. Er sprach auch vom Neoantisemitismus neuerdings auch in ‘linken Kreisen‘, die wie ‘Faschisten agieren‘, und er sprach vor allem von der jüdischen Jugend, die nach 1945 geboren wurde, die sich in einer permanenten Konfliktsituation befände und um ihren Standort ringe. Und doch, so der Generalsekretär, müsse man mit der Jugend rechnen können, denn ohne sie habe keine Gemeinschaft einen Sinn. Doch nicht nur der Zentralrat äußerte seine Klage, auch die Rabbiner beklagten ihre Situation in der BRD als ‘besonders schwer‘.

Dieser, am 13.9.1974 in der >Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland<, von Rabbiner Gruenewald veröffentlichte Text, liest sich noch heute überaus aktuell! Abgesehen, daß der Münchner Gemeinderabbiner die ‘Autoritätskrise‘ beklagte, schrieb er u.a:  

>Die Situation des Rabbiners in der BRD ist allerdings besonders schwer. Kaum gibt es noch Kandidaten für frei werdende Positionen, (...) abgesehen von Gastpredigern zu Fest- und Feiertagen. Die Bedürfnisse von etwa 30.000 Juden haben zehn Rabbiner zu befriedigen, eine Zahl, die in keinem Verhältnis steht mit der Zahl der Rabbiner, die anderen Ländern mit ähnlicher jüdischer Bevölkerungszahl zur Verfügung stehen. So ist der Rabbiner in der Gemeinde der BRD, da wo es überhaupt einen gibt, für alle Arten rabbinischer Tätigkeit (...) voll verantwortlich. Er hat keinen Vertreter und keinen Assistenten und aus Kreisen der Gemeinde bestenfalls gut gemeinte Ratschläge ...<

Und an diese Situation hat sich in den 80er Jahren fast kaum etwas geändert. 

Ebenfalls unverändert blieb in den 80er Jahren das Auf und Ab in der Beziehung zwischen Juden und Deutschen. Zwar konnten inzwischen zunehmend Verbesserungen in den Beziehungen zwischen Israel und der BRD verbucht werden, und es saßen auch immer weniger Juden auf den sprichwörtlich ‘gepackten Koffern‘, aber von einer ‘Normalisierung‘, hier in der Bundesrepublik Deutschland konnte noch lange keine Rede sein.

So bleiben die Worte, die General Lucius Clay bei der Jubiläumsfeier zum 50jährigen Bestehen der Münchner Synagoge, im September 1981, in der Reichenbachstraße sprach, beredtes Zeugnis:   

»Neben dieser erfreulichen Tatsache erfüllt uns jedoch eine Entwicklung in der deutschen Bundesrepublik mit großer Sorge: Es ist dies der seit Jahren anwachsende Neonazismus, den wir nicht außer acht lassen dürfen. Die Gruppen schrecken vor Attentaten und Morden nicht zurück. Die staatlichen Instanzen bemühen sich, alles zu unternehmen, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten. Auch auf die Gefahr des international auftretenden Terrorismus, der sogar vor Gotteshäusern keinen Halt macht, so 1980 in Paris der Anschlag auf die Synagoge in der Kopernikusstraße und erst vor wenigen Wochen in Wien (...), muß hier hingewiesen werden. Es soll auch nicht unerwähnt bleiben der Brandanschlag im Jahre 1970 auf dieses Haus, wo wir sieben Opfer im angrenzenden Altenheim zu beklagen hatten. Dieser Anschlag ist ungeklärt geblieben. Ich möchte hier die Worte von Herrn Oberbürgermeister Erich Kiesl, die er am Freitag, dem 18. September 1981, bei der Enthüllung der Gedenksäule für die Opfer des am 26. September 1980 erfolgten Anschlags auf der Oktoberfestwiese sprach, zitieren: ‘Gewalt in jeder Form muß geächtet werden‘.« [xxxviii]

Auch die Worte des damaligen Vorsitzenden des Direktoriums des Zentralrats der Juden in Deutschland, Werner Nachmann, der ebenfalls der Feierlichkeit beiwohnte, nannte die Dinge beim Namen:  

»Wir, die Juden in Deutschland, leben frei in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Wir teilen mit jedermann Rechte und Pflichten. Aber wir sind nicht frei von Unbehagen. Noch ist die Vergangenheit gegenwärtig. Noch immer suchen wir verbindliche Antworten und Erklärungen für den Holocaust und für die Ursachen, die zu ihm führten. Noch immer forschen wir nach den Motiven, wie ein Volk, dessen Bürger wir waren, innerhalb von wenigen Jahren in Rassenhaß und Habgier verfiel. Wir wollen die Symptome, die dazu führten, nicht primär der historischen Forschung wegen finden, sie interessieren uns deshalb so sehr, weil sie uns helfen könnten, die Gegenwart besser zu analysieren und frühzeitig die Entwicklung zu erkennen.

Das Unbehagen, das uns befällt, hat seinen Grund in atmosphärischen Störungen, die nicht mehr übersehbar sind. Sie sind vor allem durch eine Intoleranz gekennzeichnet, die wir noch vor wenigen Jahren überwunden glaubten. Sie manifestiert sich in der Anwendung von Gewalt und sie macht auch nicht Halt davor, Menschen zu verletzen und zu töten.

Und wir alle laufen Gefahr, uns an diesen schlimmen Zustand wie an eine nicht heilbare Krankheit zu gewöhnen. Der Widerhall auf den Terrorangriff in Wien muß uns nachdenklich stimmen. Der Aufschrei war kurz und kaum vernehmbar. Das Entsetzen hielt nicht lange an. Man ordnete sehr schnell den Überfall auf die Synagoge mit Toten und Verletzten in die Auseinandersetzung zwischen Israel und der PLO ein, als ob Wien ein Kriegsschauplatz wäre. Von den Überfällen in Holland und Paris redet schon kein Mensch mehr. Die öffentliche Meinung - diesen Eindruck muß man gewinnen - registriert diese Verbrechen wie bedauernswerte Unfälle und unterstellt wohl, so könnte man ergänzen, daß der Besuch von Synagogen für Juden zu einer Art ‘Berufsrisiko‘ gehöre.

Es ist nicht nur das schreckliche Geschehen selbst, das uns warnt, es ist in gleichem Maße die Gleichgültigkeit und Oberflächlichkeit, mit der es in der breiten Öffentlichkeit hingenommen wird. Gewiß, wir Juden sind in einem ganz besonderen Maße dem Staat Israel verbunden und somit sind wir Feinde jener, die den Staat Israel auch heute noch vernichten wollen. Aber wir hätten aus der Geschichte unseres Jahrhunderts in Deutschland und aus der Geschichte des Judentums nichts gelernt, wenn wir jetzt nicht unsere Wachsamkeit schärfen würden. Denn schneller als bisher zeigt sich der Ungeist nicht nur gegenüber den Juden. Die Intoleranz, die über die Rechthaberei zum Terror führt, trifft heute nicht nur die Juden. Es könnte allerdings sein, daß wir mit unserer leidvollen Erfahrung die Signale früher und besser erkennen. Und wir haben uns geschworen, nicht mehr tatenlos zuzusehen und abzuwarten, denn wir mißtrauen jener These, daß sich nie mehr wiederholen könne, was in diesem Jahrhundert geschah. Wir bejahen diesen Rechtsstaat, wir bejahen die freie Diskussion und nehmen an ihr teil. Aber wir hören auch Parolen, die uns stutzig machen. (...)

Und vor wenigen Tagen meldete die Lokalpresse von Freiburg, die ‘Grünen' hätten einen Strafantrag gegen Ärzte wegen Körperverletzung gestellt, die an Knaben Beschneidungen vornahmen. Als Begründung: Fremdartigkeit.

Politiker haben es uns Jahre hindurch vorgesagt, und wir begannen schon, uns vertrauensselig daran zu gewöhnen, daß es sich besonders bei den Rechtsextremisten um exotische Minderheiten handle, die man gleichsam übersehen könne. (...) Es handelt sich um junge Menschen, Bürger der von uns bejahten und im In- und Ausland vertretenen und verteidigten Bundesrepublik Deutschland die unwissend und verblendet einer totgesagten und totgeglaubten Ideologie anhängen, die die deutsche Vergangenheit negieren oder von ihr noch nie etwas erfahren haben. 

Wieder, wie in der Synagoge in Köln am 9. November 1978, muß ich daran erinnern, daß es für uns nach dem Krieg ein großes Wagnis war, hierher zurückzukehren und uns für den. Aufbau einer neuen deutschen Demokratie zur Verfügung zu stellen. Dieses Wagnis wird jetzt auf eine neue Probe gestellt. Denn wir können nicht übersehen, daß viele Väter und Großväter, Lehrer und Erzieher, offensichtlich weit davon entfernt sind, die Duldsamkeit und den Respekt vor dem anderen so zu vermitteln, wie es den erklärten Grundlagen und dem Geist der Verfassung dieses StaatesBundesrepublik Deutschland entspricht.

Mehr jedoch handelt es sich darum zu prüfen, welcher Geist noch oder wieder weht.

Wenn wir so fragen, verfolgen wir damit nicht die Absicht zu dramatisieren. Und wir vergleichen die Bundesrepublik auch nicht mit jenem Deutschland, das zum Holocaust fähig war. Aber wir leben auch nicht abseits von der Geschichte [xxxix]

Dieses etwas längere Zitat sollte lediglich jene Stimmung vermitteln, Gefühle, die Juden in Deutschland – aber auch in München – noch in den 80er Jahren bewegten. Denn immer wieder kam es zu gewisse Rückschläge, seien sie entweder aus Taktlosigkeit oder politischer Natur entstanden

So zeichnete sich beispielsweise im Jahre 1982 eine neue feindlich gesinnte Welle in Form des 'Anti-Zionismus' ab. Es war das Jahr, wo sich der israelische Staat entschieden gegen die ständigen Angriffen aus dem Libanon zur Wehr setzten. Im Zusammenhang mit dem Libanonkrieg – und weil man hier bis heute nie die schwierige Lage der Israelis verstand – meinte Frau Lieselotte Bothmer, übrigens eine SPD-Abgeordnete, man solle die Wiedergutmachungsleistungen stoppen und sie besser an die Palästinenser und Libanesen ausbezahlen. Davon abgesehen, kam es in mehreren Städten Deutschlands zu spontane Demonstrationen wo auf Transparenten (wie z.B. in Bremen) unter anderem zu lesen stand: >Das sind die Juden, mal Opfer und mal Henker!< Dem nicht genug, so zog die Meute der Bremer Demonstranten zur Synagoge, wo sie lauthals rief: 'Juden raus aus dem Libanon!' was alsbald zu 'Juden raus!' verkürzt wurde. Solche Schreckbilder drangen bis München und verunsicherten die hiesige Bevölkerung zutiefst.

In solchen Momenten konnte man sehe rasch erkennen, daß der Anti-Zionismus eben nicht nur in der DDR oder in Osteuropa existierte, sondern im Westen ebenfalls mehr als latent, sogar massiv in Erscheinung kommen konnte. Dieser Anti-Zionismus zeigte sich bereits sehr früh (gerade im linksradikalen Lager, und vor allem bei den maoistischen und stalinistischen Gruppierungen) als militant und gefährlich. Dies schlug gelegentlich sogar in die offene Forderungen nach >gewaltsamer Beseitigung des jüdischen Staates< um.

Stellenweise konnte man fast keine Grenzen mehr zwischen dem ‘Antisemitismus der Rechten' und dem ‘Anti-Zionismus der Linken' erkennen. [xl]

Das war natürlich keine Modeerscheinung, denn schon in den 70er Jahren definierte die französische Soziologin, Annie Kriegel, diesen sonderbaren Zeitgeist sehr trefflich in einem einzigen Satz:  

>Der Anti-Zionismus hat in den siebziger und achtziger Jahren für die Kommunisten und die anderen Linken die Rolle übernommen, die der Antisemitismus in den dreißiger und vierziger Jahren für die Nazis und die anderen Rechten spielte.<

Einst schrien die Nazis: >Juda verrecke!<, so brüllte die geschichtslose Linke nun: >Schlagt die Zionisten tot, macht den Nahen Osten rot< - und hier zwischen beidem Gebrüll, ist hier noch irgend ein Unterschied zu sehen?

1983 gaben die Grünen einen Kalender heraus, worin sie die Auffassung vertraten >daß angesichts der zionistischen Greueltaten die Nazigreuel verblassen< würden...

Zu einer sonderbaren Kontroverse kam es 1985 in Frankfurt, mit dem Fassbinder-Stück 'Der Müll, die Stadt und der Tod', wo es bezüglich der antisemitischen Aussage zu Protestaktionen von Juden kam. Die Proteste der Juden wurden jedoch von mehreren bekannten Persönlichkeiten weniger mit einer Zustimmung, als vielmehr mit einen äußeren Unwillen betrachtet. 

Was in Bittburg ansatzweise vor sich ging, fand 1986 beim sogenannten 'Historikerstreit' seine eigene Infamie, indem einige rechtslastige Historiker, z.B. ein Ernst Nolte, versuchten haben, Auschwitz in einen relativierenden Geschichtszusammenhang zu pressen.

Der einzige Unterschied zwischen dem gegenwärtigen und dem einstigen Antisemitismus ist, das er diffuser geworden ist. Er tritt nicht mehr so offen zu Tage wie früher, sondern ist subtiler geworden, gepaart mit sonderbaren Äußerungen und revisionistischem Gedankengut.

Schon bald nach der Wiedervereinigung und dem Erkalten des Nationaltaumels, führten die sozialen Unterschiede zwischen West und Ost zu neue besorgniserregenden Verhältnissen. Sie richteten sich zwar diesmal nicht direkt gegen Juden, aber die Gewalttaten traf Ausländer und Asylsuchende zugleich. Die Anschläge in Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen und andere deutschen Städten bleiben bis heute unvergeßlich, wo nämlich jugendliche Nazis ungehindert, viel mehr unter dem Beifall mehrerer Schaulustiger, Wohnheime und Häuser der Hilflosen mit Molotow-Coctails bewerfen durften. Das Wort ‘Pogrom‘ ist in erschreckender Weise vor allem für Juden wieder aktuell geworden, denn Wohnhäuser und Menschen brannten in Deutschland und Österreich wieder, wie schon einmal in diesem Jahrhundert!

Insofern wird man verstehen, daß viele Juden hier in Deutschland (und Österreich) immer noch ein gewisses, und sogar berechtigtes Mißtrauen besitzen. Und so wird vermutlich der Text, den Georg Kreisler bereits in den 60er Jahren niederschrieb auch hinkünftig wohl kaum von der Hand zu weisen seien:  

>Es ist möglich, daß es vor Hitler Assimilation und Integration der Juden in Deutschland gegeben hat. Nach Hitler gibt es sie bestimmt nicht mehr. Zwischen deutsche Christen und Juden in Deutschland herrscht heute Mißtrauen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich in absehbarer Zeit daran etwas ändern wird.<

Es gab G’T Lob nicht nur unerfreuliche Momente für das jüdische Gemeindeleben in Deutschland. So wurde beispielsweise zu Beginn der 90er Jahre der Zuzug der jüdischen Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion überaus begrüßt. Der Zuwachs dieser Emigranten bedeutete auch für die Münchner jüdische Gemeinde einen enorme Bereicherung einerseits, und zum anderen kamen neue Aufgabenbereiche hinzu. Das war vor allem die Betreuung und Integrierung der sowjetischen Juden, in religiösen wie sozialen Bereichen. 

In diesem Zusammenhang darf dankbar auf die tatkräftige Mithilfe der drei Rabbiner, BiberfeldEhrenberg und Diskin, aber auch auf zahlreichen hilfsbereiten Gemeindemitglieder der IKG-München zurückgeblickt werden. Denn ohne ihrer Unterstützung wäre vieles nicht möglich gewesen.
Darüber hinaus ist auch daß Kulturprogramm auf die Neueinwanderer abgestimmt worden, so daß im Jugend – und Kulturzentrum der IKG-München nun fortan Veranstaltungen auch in russischer Sprache dargeboten werden konnten.

Bei einer Veranstaltung im im Dezember 1997 im Haidhauser Bürgersaal, schloß Dr. Andreas Heusler vom Münchner Stadtarchiv seinen Vortrag:

»Jüdisches Leben war stets ein fester Bestandteil des sozialen und kulturellen Lebens dieser Stadt. Wir sollten deshalb die aktuelle Zuwanderung als Chance begreifen, an jene befruchtenden Werte anzuknüpfen, die vor 1933 vom deutschen Judentum ausgingen und die auch das geistige Klima in dieser Stadt entscheidend mit geprägt haben.« [xli]

Nun ja, wie es die Jahre nach der Shoah erwiesen, wird man wohl kaum an die Jahre vor 1933 anknüpfen können, aber man versucht zumindest in den jüdischen Gemeinden – so auch in München – ein gewissermaßen ‘normales‘ Leben zu erreichen. Insofern darf die IKG-München zufrieden auf vieles, was wenigstens erreichte werden konnte, Rückschau halten.

Neben dem Jugend- und Kulturzentrum der IKG-München, daß mit überaus großem Erfolg von Ellen Presser geleitet wird, haben sich über Jahre hinweg noch einige Kulturelle Einrichtungen, wie z.B. die Literaturhandlung von Frau Rachel Salamander, oder das Jüdische Museum, unter der Leitung von Richard Grimm, in dieser Stadt etablieren können und sind zu einem festen Bestandteil des allgemeinen kulturellen Lebens in München geworden. Nicht wegzudenken aus dem Gemeindeleben sind natürlich der jüdische Kindergarten und die Grundschule sowie das jüdische Altersheim.

Seit geraumer Zeit wird gemeinsam mit dem Planungsausschuß des Stadtrats an der Errichtung eines neuen Gemeindezentrums am Jakobsplatz gearbeitet, in dem u.a. auch ein eigenes jüdisches Museum untergebracht werden soll. Einen festen Stellenwert besitzt bereits der, an der Ludwig-Maximilians-Universität zum Sommersemester 1997 errichtete, Lehrstuhl für jüdische Geschichte, unter der Leitung von Professor Michael Brenner. Neben der jüdischen Geschichte wird den Studenten die Möglichkeit gegeben, u.a. auch Neuhebräisch und Jiddisch zu lernen.

Nach all den positiven Perspektiven, die sich in den letzten Jahren boten, darf man – sofern nicht erneut eine politische Katastrophe geschieht -, vielleicht doch noch hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Dies wünsche ich unserer jüdischen Gemeinde ebenso, wie der Bundesrepublik. Deutschland, die für viele junge Juden – aber auch für die meisten der ehemaligen sowjetischen Juden, die sich hier niederließen – zu einer Heimat geworden ist.

***

Anmerkungen:

[i] der Kommentator der Nürnberger Gesetze.

[ii] der Leiter einer Spezialeinheit für Judenmassakern in Polen.

[iii] München, 1961;

[iv] trotz der vielen themen-entsprechenden Bücher, und der vielerorts gegründeten christlich-jüdischer oder deutsch-israelischer Vereine...

[v] von den ehemals 560.000 Juden sind circa 300.000 ausgewandert; 200.000 Juden wurden ermordet; und etwa 60.000 hatten den Holocaust Überlebt - dieser Zahl enthält auch die sogenanten ‘Mischlinge‘ und ‘Privilegierten‘. (laut: >Enzyclopädie des Holocaust<. In München betrug beispielsweise der jüdische Bevölkerungsanteil im Jahre 1910 etwa 11.000 Juden, heute sind es rund 8.000, von denen nur noch ein kleiner Bruchteil echte Münchner sind.

[vi] aus >Und neues Leben blüht aus den Ruinen<, Jüdisches Gemeindeblatt - später >Allgemeine Wochenblatt< - No.22, 21.2.1947.

[vii] außer Berlin, Bremen, Frankfurt, Köln, München.

[viii] Das Rabbiner-Seminar wurde 1873 gegründet.

[ix] Der Rabbiner-Verband wurde 1896 gegründet und ihm gehörten um 1930 ca. 180 Mitglieder an; Der Rabbiner-Verband bezweckte nach seiner Satzung:

a, die Hebung des religiösen Lebens der Judenheit;

b, die Wahrung der Ehre des Judentums;

c, Wahrung der Würde des Rabbinerstandes;

d, die Förderung seiner Mitglieder in wissenschaftlicher und amtlicher Tätigkeit;.

[x] Ende September 1950 wurde das >Münchner Komitee< durch die US-Militärregierung aufgelöst.

[xi] 1945 schätzte man die Renovierungskosten auf DM 130.000,-

[xii] 1977, für Universität Köln.

[xiii] Schlußbericht des Untersuchungsausschußes zur Prüfung der Vorgänge im Landesentschädigungsamt, Bayerischer Landtag, 186. Sitzung, s.912;

[xiv] das las man bereits in der Süddeutschen Zeitung vom 23.8.47;

[xv] im Bericht vom 20.5.1947;

[xvi] Sonderdienst;

[xvii] Im März 1951 meinte Müller in Ansbach u.a.: ...er könne nicht zusehen, daß Bayern von einem jüdischen ‘König‘ regiert werde.

[xviii] Ende April 1951 bescheinigte der Staatssekretär im bayerischen Finanzministerium, Richard Ringelmann, sogar, daß eine außerordentliche Prüfung des Obersten Bayerischen Rechnungshofes (für den Zeitraum Herbst 1945 bis Juni 1950) ergeben habe, daß sich Auerbach bei der Kreditvergabe >völlig korrekt< verhalten habe.

[xix] 14.8.1952;

[xx] DIE ZEIT # 34, 14.August 1992, s.62 (Zeitläufe);

[xxi] Helmut HEINZE, Fraktionsgeschäftsführer der NDP und Abgeordneter des Bayer. Landtags, war Polizeimeister der Bayer. Landespolizei (München); Die ‘Bundeswehr-Betreuer‘ Arthur SCHMITT (General a.D.) und Wolfgang ROSS (Hauptmann a.D.) waren ebenfalls Abgeordnete der NPD im Bayer. Landtag; und der ‘Rechtsanwalt‘, Dr. Siegfried PÖHLMANN, war nicht nur Vorsitzender der NPD, sondern gleichzeitig auch Mgl. des Ältestenrats und im Ausschuß für Verfassung- und Rechts-Fragen.

[xxii] Dr. S. Neuland ist der Vater von Charlotte Knobloch, der gegenwärtigen Präsidentin der IKG München;

[xxiii] Süddeutsche Zeitung, 5.Mai 1967, >Menora über Dachau<;

[xxiv] United Nations Relief and Rehabilitation Administration;

[xxv] im November 1969;

[xxvi] l“z >sichronu libracha< (Gesegnet sei ihr Angedenken) ihre Namen Regina Becher, Max Blum, Rosa Drucker, Leopold Gimpel, David Jakubowicz, Siegfried Offenbacher und Georg Pfau.

[xxvii] am 5.September 1972;

[xxviii] Merk war 1972 Mitglied des sogenannten ‘Krisenstabes‘.

[xxix] eine Statistik von Januar 1975 wies 27.199 Menschen jüdischen Glaubens in der BRD (u. Westberlin) auf. - 1974 lebten 26.772 jüdische Bürger auf dem Gesamtgebiet der BRD;

[xxx] 1964 in der Georgenstraße errichtet;

[xxxi] Jean Horivan-Horowitz, der in den 70er nach München kam und für die IKG tätig wurde, leistete große Dienste vor allem beim Wieder-Aufbau dieser Gemeinde-Bibliothek;

[xxxii] Im Jahre 1972 = Bund: 841;/ Länder: 428;/ Kommunen: 144; Von den 428 Landes-Bediensteten waren 127 im Schuldienst und 67 in der Justiz beschäftigt! Im Jahre 1973 = Bund: 848;/ Länder: 372;/ Kommunen: 123; Von den Landesbediensteten waren 133 im Schuldienst und 54 bei der Justiz tätig;

[xxxiii] Bauern- und Bürger-Initiative; (gegründet im November 1971)

[xxxiv] der Höchstand seit 1945! auch in ihrer erhöhten Auflagenzahl;

[xxxv] unter Beteiligung der NPD, DVU und AKON;

[xxxvi] Henryk van DAM (1906 Berlin - 1973 Düsseldorf) war seit 1950 Gen. Sekr. des ZR der Juden in Deutschland. Van DAM ist auch der Verfasser des zweibändigen Werk >KZ-Verbrechen< (1962/66);

[xxxvii] ein Kreis zur Pflege deutsch-jüdischer Kulturwerte;

[xxxviii] Neue Jüdische Nachrichten, 2. Okt. 1981;

[xxxix] Neue Jüdische Nachrichten, 2. Okt. 1981

[xl] Im November 1969bereits verteilte die anarcho-kommunistischen 'Schwarzen Ratten' ein Flugblatt, worin sie den Bombenanschlag auf das Jüdische Gemeindehaus zu Westberlin, am Jahrestag der Pogromnacht, rechtfertigten, und sich außerdem noch 'gegen deutsche Schuldgefühle' verwahrten. In ihrer Erklärung meinten sie weiter: >es sei an der Zeit, mit dem Bußetun für die Vergasung der Juden< aufzuhören.

[xli] Haidhauser Nachrichten, 28. Dezember 1997 - http://www.munich-online.de/

(© 1992-2006, Chaim Frank, Dokumentations-Archiv, München)