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Nürnberger Nachrichten Lokales 10.7.2000 23:17

 

Die Einrichtungen der Nächstenliebe waren mit diesem Teil des NS-Systems eng verbunden

 

Zwangsarbeiter auch bei der Diakonie

 

Suche nach Unterlagen – In Neuendettelsau fanden sich nur Notizen – Entschädigung zugesagt

von Michael KASPEROWITSCH

 

NÜRNBERG – Die Spuren des Unrechts sind fast vollständig verwischt. Es ist reiner Zufall, dass Matthias Honold zwischen alten Akten und historischen Dokumenten das Kuvert mit etwa 200 Notizblättern in die Hände fiel. Die Namen von Ukrainern, Polen, Belgiern, Franzosen, aber auch Italieniern und Österreichern sind darauf mit dünnem Bleistift notiert. Die Zettel verzeichnen außerdem Geburtsdatum, Tag des Arbeitsbeginns und den des Einsatzendes. Junge Mädchen sind ebenso darunter wie Männer im Rentenalter. Bei ungefähr 40 davon ist sich der Leiter des Archivs der Neuendettelsauer Diakonie sicher: Das waren Zwangsarbeiter, die die Nazis aus ihrer Heimat in die fränkische Provinz verschleppt haben.

In Gärtnerei und Bäckerei

Von Anfang der 40er Jahre bis kurz vor Kriegsende haben sie als Knechte in der Landwirtschaft gearbeitet, die damals zu der heute größten Diakonie-Einrichtung Bayerns gehörte. Auch Gärtnerei oder Bäckerei sind als Arbeitsplätze erfasst.

„Ob diese provisorische Kartei alle Namen dieser NS-Opfer bei uns enthält, weiß niemand", meint der Historiker Honold. Der ungeordnete Zettelhaufen stammt bereits aus der Nachkriegszeit. Die US-Militärbehörden haben 1948 angeordnet, alle Ausländer bei der Diakonie aufzulisten. Die vollständige Liste ist verschwunden. Bei den Arbeitsämtern, die der Diakonie auf Antrag ein Kontingent der Verschleppten zuteilten, oder bei der Krankenkasse, bei denen sie gemeldet waren, sind alle Zwangsarbeiter-Unterlagen verschwunden. Matthias Honold nennt den einigermaßen aufschlußreichen Fund in seinem Archiv deshalb einen „Glücksfall".

Die evangelische Kirche und ihre Diakonie – nicht nur die in Neuendettelsau – haben erst in den vergangenen Monaten damit begonnen, diesen Teil der Geschichte ihrer Verstrickung in das NS-Regime aufzuarbeiten. Die intensive Diskussion der vergangenen eineinhalb Jahre über 1,2 Millionen Zwangsarbeiter in der deutschen Industrie haben 55 Jahre nach Kriegsende auch den Blick der Kirchenverantwortlichen auf dieses dunkle Kapitel ihrer eigenen Geschichte gelenkt.

Der „Außendruck", so heißt es, habe den Wandel beschleunigt. Wenn es um die Beschäftigung der verschleppten Menschen aus Osteuropa ging, arbeiteten auch die Einrichtungen der Nächstenliebe nahtlos mit den NS-Behörden zusammen, auch wenn die Bedingungen bei der Diakonie nicht vergleichbar sind mit der oft tödlichen Quälerei der Arbeitssklaven aus den Konzentrationslagern. Dem Schicksal der Diakonie-Zwangsarbeitern soll jetzt gründlicher nachgegangen werden. Eins ist aber ziemlich sicher: Es hat sich in der Kirche offenbar niemand daran gestoßen, dass unter den Verschleppten auch sechszehn- und siebzehnjährige Jugendliche waren. Über das alltägliche Leid der Betroffenen geben Honolds Karteikarten keine Auskunft.

Eine Umfrage in den vergangenen Monaten bei den knapp 700 Einrichtungen der Diakonie in Bayern brachte bisher ein mageres Ergebnis. Nur rund 20 vermuten nach dem ersten Hinsehen vage, dass bei ihnen Zwangsarbeiter beschäftigt waren. Auch das Diakonische Werk Württembereg ist fündig geworden. Aus Sicht der Schwaben „war der Einsatz von Zwangsarbeitern notwendig, damit Behinderte oder Kranke überleben konnten". Die sozialen Einrichtungen waren auf Nahrungsmittel aus ihren landwirtschaftlichen Gütern angewiesen. „Gewinne hatte da – anders als bei der Industrie – ja niemand im Sinn", sagt Sprecher Peter Ruf. Er will das Unrecht damit aber keinesfalls rechtfertigen.

Die Suche nach Fakten ist noch lange nicht beendet. „Man findet in den Archiven natürlich selten einen Aktenordner mit der Aufschrift ,Zwangsarbeiter', aber wenn man lange genug dran bleibt, findet man überall etwas. Das ist eine Frage, wie lange man sucht", meint der Hamburger Historiker Harald Jenner. Der 45-Jährige erforscht seit 15 Jahren die problematische NS-Geschichte der Kirche. Der zeit ist er im Auftrag der deutschen Diakonie-Zentrale in Stuttgart mit einer Zwangsarbeiter-Regionalstudie für die nordelbische Landeskirche beschäftigt. Er schätzt, dass im Dritten Reich insgesamt Tausende von Zwangsarbeiter bei der Diakonie dienen mussten. „Das ging nach dem Motto: Wer braucht noch jemand, wer hat noch nicht. Die Anforderung solcher Kräfte war eine ganz normale Sache." Über diese Selbstverständlichkeit ist das Entsetzen heute groß.

Schon die bisher bekannt gewordenen Tatsachen haben die Kirche zum Handeln veranlasst. Sie kann sich heute nicht mehr damit zufriedengeben, die Industrie an ihre Verantwortung zu erinnern und säumige deutsche Unternehmen zu mahnen, ihren finanziellen Beitrag für die Zwangsarbeiter-Stiftung des Bundes und der Wirtschaft zu leisten. Auch die Evangelische Kirche Deutschlands (EKD) will nun rund zehn Millionen Mark in die bundesweite Stiftung einzahlen. Auch einzelne Diakonie-Werke wollen etwas drauflegen. Die Diakonie in Baden hat bereits 25 000 Mark zugesagt. Wieviel aus Bayern kommt ist noch offen.

Gelegentlich wird dabei die Sorge geäußert, „dass wir heute bei der Versorgung Behinderter sparen müssen, um Geld für die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter frei zu bekommen".

Über 5000 Beschäftigte

Bei der Neuendettelsauer Diakonie mit über 5000 Beschäftigten und einer Bilanzsumme von rund 600 Millionen Mark besteht diese Gefahr nicht. Sie verfügt über eine andere Möglichkeit, sich eventuell an der Zwangsarbeiter-Stiftung zu beteiligen. Sie hat erhebliche finanzielle Rücklagen, gespeist von der aufopferungsvollen Haltung der Neuendettelsauer Diakonissen. Sie verzichten traditionsgemäß auf den Lohn ihrer Arbeit in Heimen und Krankenhäusern und beanspruchen nur ein mageres Taschengeld. Im Laufe vieler Jahre haben sich auf diese Weise Millionen angesammelt. Wieviel davon nun an die Stiftung gehen soll, ist ebenfalls noch nicht entschieden.

© NÜRNBERGER NACHRICHTEN

 

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Thüringer Allgemeine Lokales 11.7.2000 0:55

Langsam schließen sich Lücken der Geschichte

 

ERFURT. Lücken in der Geschichte - mit dieser Überschrift ist in der Chronik der 100-jährigen Stadtwirtschaft Erfurt die Zeit von 1930 bis 1945 überschrieben. Eine Lücke hat das Unternehmen jetzt versucht zu schließen.

"Als wir im vergangenen Jahr unsere Broschüre für die 100jährige Geschichte unseres Hauses erstellten, stießen wir natürlich auch auf das Thema der NS-Zwangsarbeiter während des 2. Weltkrieges", so Stadtwirtschafts-Geschäftsführer Dietmar Schumacher. Bei der Suche in Stadt- und Verwaltungsarchiven und in 23 verschiedenen Aktentiteln fand man die Namen von 74 Personen (unter anderem von 25 so genannten Ostarbeitern, zwei Ukrainern, vier Letten, neun Slowenen, zehn Kroaten), die vor allem als Müllauflader und in der Fäkaliensammlung zum Dienst in dem damaligen städtischen Fuhramt gezwungen wurden.

Als Grund für die tatsächlich so genannte Einstellung musste das Unternehmen wie 1942 nur "Mangel an Arbeitskräften" auf dem Anforderungsbogen eintragen. Allerdings bekamen die unter anderem in der Roonstraße (heute Liebknechtstraße) untergebrachten Zwangsarbeiter laut Reichsgesetzblatt vom 2. Juli 1942 nur 70 Prozent des damaligen Tariflohns. Und nach eben diesem Gesetzblatt wurde penibel aufgelistet, was die Verschleppten auch noch für "freie Unterkunft und Verpflegung" abzusetzen hatten.

Für die Stadtwirtschaft und den Mutterbetrieb, die Stadtwerke an sich, war es keine Frage, sich ohne große Diskussionen zu dieser, ihrer Geschichte zu bekennen. Gleich zu Beginn trat man dem Fonds der Deutschen Wirtschaft für die Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter bei. "Im April haben die Stadtwerke Holding und alle anderen Betriebsteile einmütig diesen Entschluss gefasst", so Stadtwerke-Geschäftsführer Rainer Otto. Nicht nur er sieht dies als eine originäre moralische Aufgabe, bei der man nicht wirtschaftliche Aspekte vorschieben kann. 260 000 Mark stehen von den Erfurter Stadtwerken im Fonds der Deutschen Wirtschaft, in den beschämenderweise erst eine vergleichsweise geringe Anzahl betroffener Betriebe eingezahlt hat. Auch Erfurter Firmen hielten sich dabei bislang zurück.

Die Stadtwirtschaft sieht mit dem Einzahlungsbeleg von ihren 50 000 Mark dieses düstere Kapitel Geschichte noch nicht als abgeschlossen.

"Wir wollen mit der Stadtverwaltung, auch wenn es kompliziert wird, an die Adressen von heute noch lebenden Zwangsarbeitern herankommen. Und sie zu uns einladen. Sie sollen sehen, was heute aus der Stadt und dem jetzigen Unternehmen Stadtwirtschaft geworden ist", so Dietmar Schumacher. Vielleicht können sich ehemalige Mitarbeiter aus der Rentnergruppe des Betriebes noch persönlich an die Zusammenarbeit erinnern. Und das auch den heutigen Stadtwerkern erzählen.

"Und schön wäre es, wenn wir unseren Gästen dann trotz einzelner negativer Meinungen zu heutigen Gastarbeitern vermitteln könnten, dass wir und unser Land heute eine andere Einstellung haben", hofft der Stadtwirtschafts-Chef. "Denn heute geben wir als Betrieb zum Beispiel Hilfe und Unterstützung an unsere Partnerstädte in Lowetsch und Vilnius zurück."

 

Katrin MÜLLER

 

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